Wenn man die Kunst als gesellschaftlichen Seismografen begreift, der die Paradoxien und Defizite der sie umgebenden Gesellschaften spiegelt, dann lässt sich in einer aktuellen Entwicklung in der Kunst eine direkte Reaktion auf den prekären Status des Journalismus ablesen - eine Krise, die in ihren Auswirkungen den gesellschaftlichen und politischen Status Quo zu gefährden scheint.
Die Herausforderungen unserer Zeit bräuchten einen funktionierenden Journalismus mehr denn je, einen glaubhaften und ausgleichenden Vermittler zwischen allen gesellschaftlichen Kräften. In jüngerer Zeit ist jedoch vor allem der klassische Journalismus zunehmend in den Verdacht geraten, zum einen in seiner Neutralität zu versagen, zum anderen seine Wirkmacht als Unterscheidungs- und Deutungskraft zwischen Fiktion und Wahrheit verloren zu haben.
Angesichts einer allgemeinen Verunsicherung über diese klaffende Leerstelle springt die Kunst in diese Lücke, verlagert sich auf journalistische Arbeitsweisen, begibt sich auf die Suche nach Kriterien der Unterscheidbarkeit und betreibt Wirklichkeitsarbeit.
Bis zum Beginn der Digitalisierung stellte sich uns das, was für uns Welt und Wirklichkeit ist, in erheblichem Maße über das journalistische Bild dar, denn die Wahl der Medien und Kanäle war aus heutiger Sicht stark begrenzt. In seiner Schlüsselposition zwischen den einzelnen Machtzentren als “vierte Gewalt”, als unabhängiger Beobachter, Berichterstatter und kontrollierendes Element, lag es vor allem in der Macht des klassischen Journalismus, einen gesellschaftlich anerkannten Konsens in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit zu finden.
Dabei sind sowohl die Idee eines freien und unabhängigen Journalismus, der eine vermittelnde und ausgleichende Funktion für die Gesellschaft innehat, als auch die Idee einer freien Kunst, die sich vor allem gegen den Status Quo richtet, sehr junge Erscheinungen und Errungenschaften sich demokratisierender Gesellschaften. Doch Gesellschaften sind in beständiger Veränderung, Machtverhältnisse ändern sich und somit auch die Deutungshoheiten über das, was sich uns als Wirklichkeit darstellt.
Vor allem die weltweite Digitalisierung hat den klassischen Journalismus grundlegend verändert. Versprach sie über den freien Informationsfluss zunächst eine langersehnte Befreiung von privat wie staatlich etablierten Meinungsmonopolen, scheint sie aus heutiger Sicht eher die Büchse der Pandora geöffnet zu haben.
Die Digitalisierung hat die wirtschaftliche Basis des Journalismus völlig umstrukturiert,
zum einen wurde die Produktion klassischer Printmedien und Bildmedien immer einfacher und billiger, zum anderen ermöglichte das Internet eine explosionsartige Vervielfachung der Informationskanäle.
Die schnelle und kostenlose Verfügbarkeit von Informationen im Netz machten eine unabhängige Finanzierung des Journalismus immer schwieriger. Zeitungsverlage wurden in Großverlagen monopolisiert, die als Kapitalgesellschaften vor allem Anzeigenkunden und Auflagen verpflichtet sind. So ist der klassische Journalismus nicht ganz haltlos in Verdacht geraten, auf Kosten einer kritischen Berichterstattung in erster Linie die Interessen des Kapitals und der mit dem Kapital eng verknüpften Politik vermitteln zu müssen.
Gleichzeitig wurde es jedem Unternehmen möglich, ein konsequentes Corporate Publishing zu betreiben und den Informationsmarkt mit eigenen Medien und Inhalten zu fluten. Wenn es dem Journalismus je möglich gewesen wäre, dann hat er die Chance verpasst, seine ureigene Rolle auch ins digitale Zeitalter zu übertragen und dort zu behaupten. Über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg hat es der Journalismus vor allem staatlichen wie privatwirtschaftlichen Interessen überlassen müssen, sich die wesentlichen Strukturen der digitalen Informationsströme zu eigen zu machen und zu kontrollieren. So ist das Netz zu einem Informationsmarkt geworden, der am allerwenigsten den Regeln eines aufklärerischen und unabhängigen Journalismus verpflichtet ist.
Parallel zu dieser Marginalisierung des klassischen Journalismus haben sich immer mehr und immer undurchsichtigere Formen von Gegenöffentlichkeiten gebildet, die zu ihrem ganz eigenen Kampf um die “Wahrheit” aufrufen und die es dem Journalismus immer schwerer machen, die Funktion des Ausgleichs, der Deutung und Unterscheidung auszufüllen.
Staaten und Konzerne, Terroristen und Leak-Aktivisten, Hacker und Zensur-Behörden, Gutmenschen, Freidenker und Reaktionäre durchdringen die mediale Öffentlichkeit auf so vielfältige und kaum noch zu differenzierende Weise, dass sie ohne Filter und ohne Deutungsmuster weder lesbar noch interpretierbar ist. Hier zeigt sich die klaffende Lücke, die der Journalismus in seiner gesellschaftlich so wichtigen Rolle hinterlässt.
Wenn man so will, dann spiegelt die Struktur unserer Informationsströme unsere Wirklichkeit in ihrer Vielfältigkeit, Unübersichtlichkeit und Komplexität so wortwörtlich wieder, dass sich ohne eine gültige Instanz zur Unterscheidbarkeit nur noch schwer ein gesellschaftlichen Konsens über unsere Wirklichkeit finden lässt.
Wie an Phänomenen wie Trump, dem Brexit und der „konservativen Revolution“ derzeit zu sehen ist, haben wir bisher keine Strategie gefunden, mit dieser Komplexität, mit dem Wahrnehmungsstress dieser Vielstimmigkeit und Gleichzeitigkeit konstruktiv umzugehen. Im Gegenteil, es scheint wieder die Zeit der einfachen Antworten gekommen zu sein, der Vereinfachungen, der Rückgriffe auf längst überholte Stereotype und Muster, der Verweigerung der Wirklichkeit und ihrer Herausforderungen. Vor allem die Echokammern der Sozialen Netzwerke bieten nun die schlechteste Möglichkeit, sich in die jeweils einfachen Wahrheiten und Deutungsmustern zurückziehen zu können.
Mit einigem Sarkasmus könnte man behaupten, dass wir an einem Punkt angekommen sind, auf den die Kunst schon immer hingearbeitet hat: die Wirklichkeit als ein Möglichkeitsfeld, in dem die Wahrheit nur noch ein Akt der Behauptung ist, nur ein Blickwinkel in der Betrachtung, immer nur eine von vielen Möglichkeiten. Doch die Wirklichkeit hat die Kunst längst überholt. Denn während das herausfordernde Wechselspiel zwischen Fiktion und Wahrheit eine Strategie der Kunst gewesen ist, die Meinungsmonopole herauszufordern, so haben sich heute die Meinungsmonopole selbst dieses Wechselspiel wirksam zu eigen gemacht.
Entgegen den Strategien der Vereinfachungen und Umdeutungen ist es nun die Kunst selbst, die sich wieder auf die Suche nach der Wahrheit macht, die Wirklichkeitsarbeit betreibt und neue Kategorien von Unterscheidbarkeit und Deutungskraft entwickelt. Ohne je den konkreten gesellschaftlichen Auftrag bekommen zu haben, ist die Krise des Journalismus Grundlage und Legitimation künstlerischer Arbeit geworden.
Die Frage ist jedoch, ob und wie sie diese Funktion jemals ausfüllen kann? Denn Kunst setzt in der Regel ein hohes Maß an Vorwissen voraus. Zudem lässt das gesellschaftlich stark verankerte Bild vom egozentrischen, des mit sich selbst beschäftigten Außenseiters und Dilettanten die Künstler_innen vor allem in journalistischen Zusammenhängen kaum als glaubwürdig oder fundiert erscheinen. Wohin kann es also führen, wenn an keinerlei journalistischen Regeln gebundene Künstler_innen sich auf die Suche nach der Wahrheit machen?
Die Stärke und Fähigkeit der Kunst liegt vor allem darin, Zustände der Uneindeutigkeit und der offenen Möglichkeiten zu erzeugen und darin zu zeigen und zu vermitteln, wie wir trotzdem Erkenntnisse und einen Gewinn daraus ziehen können.
Die Komplexisierung in unserer Wahrnehmung der Welt lässt sich nicht mehr zurückdrehen, wir müssen neue Wege finden, damit umzugehen. Entgegen aller Bestrebungen der Vereinfachung, einem Zurück zu einfachen Weltbildern und vereinfachender Denkmuster, entgegen einer dauerhaften Hysterisierung der Medien brauchen wir neue Unterscheidungskriterien und Strategien, um die komplexen Zusammenhänge erkennen, verstehen und aushalten zu können.
Wenn die Neuigkeiten von heute und gestern noch einmal aus künstlerischer Sicht betrachtet werden, eröffnen sich neue Perspektiven der Deutung und Einordnung. Wenn die Bilder fehlen, findet die Kunst Formen und Wege, trotzdem von dieser nicht sichtbaren Wirklichkeit zu erzählen. Und wenn die Kunst im Fall von politischen Krisen immer stärker aktiv interveniert und Aufklärungsarbeit leistet, kann sie vielleicht irgendwann doch neue Deutungskräfte entwickeln.
Wenn sich Kunst, Wissenschaft und Journalismus verbinden, wie zum Beispiel in den Projekten Forensic Architecture und Quadrature, und sie über ihre Fähigkeiten und Strategien und eine aufwendige Recherche etwas sichtbar machen, das in der Komplexität der Informationsströme versteckt und verborgen liegt, dann lassen sich grundsätzlich falsche Behauptungen entlarven, lassen sich Berichte oder Geschichtsschreibungen als unvollständig, konstruiert oder sogar falsch relativieren. Es geht vor allem darum, politisch, gesellschaftlich und journalistisch vorgezeichnete Ansichten als solche sichtbar zu machen.
Es geht also darum, tatsächlich neue Zugänge zur Wirklichkeit eröffnen, die der Komplexität unserer Wirklichkeit gerecht werden. Die Ausstellung des diesjährigen EMAF möchte einige dieser künstlerischen Ansätze zeigen. Zum einen mit Positionen, die vor allem den Wahrnehmungsstress dieser Vielstimmigkeit und Gleichzeitigkeit in den Medien sichtbar und hörbar machen: BREAKING von Anahita Razmi, N.E.W.S. // N.O.W.S. von Olli Holland, Bouquet zur Rekonvaleszenz von Jonas Wilisch und Expanding and Remaining von Navine G. Khan-Dossos.
Andererseits zeigt die Ausstellung Positionen, die darüber hinaus Perspektiven eröffnen, wie man innerhalb dieser Vielstimmigkeit trotzdem Zusammenhänge verstehen und Erkenntnisse gewinnen kann, und wie wir in Zukunft die öffentlichen Diskurse über die gesellschaftlichen Herausforderungen führen können und müssen.
So ist das Kongo Tribunal von Milo Rau der Versuch einer Bewusstwerdung, dass wir als Teil eines komplexen Zusammenhangs mit den Geschehnissen auf der Welt verbunden und mit für sie verantwortlich sind. Dass Kriege und Krisen nicht einfach ein lokales Problem an einem anderen Ende der Welt sind, sondern Probleme die wir alle wortwörtlich in Form unserer Smartphones in unseren Händen halten.
Wenn wir in der Arbeit Best of Luck with the Wall (variant) von Garrett Lynch & Frédérique Santune quälende 36 Stunden lang der Kamerafahrt entlang der geplanten Mauer zwischen den USA und Mexiko folgen, dann wird auf sehr körperliche Weise bewusst, wie unendlich sinnlos die so einfache und vereinfachende Antwort einer unmöglichen Architektur auf eine gesellschaftliche Veränderung ist.
Es sind die Vereinfachungen und Stereotypisierungen, wie sie in der Presse und dem Journalismus üblich sind, und die sich von dort in unseren Köpfen weiter verfestigen und verselbstständigen in einem ewigen Kreislauf der Bilder, die Daniel Garcia Andujar in seinen Arbeiten Games Real, Games Killer und Infiltrators sichtbar und bewusst macht.
Und wenn Candice Breitz in ihrer Arbeit PROFiLE ihre eigene Rolle als Repräsentantin des Staates Südafrika thematisiert, dann stellt sie damit die Frage, inwiefern sie als einzelne Person überhaupt für eine so multikulturelle und diverse Gesellschaft sprechen kann und darf.
Lange bevor es das erste Smartphone gegeben hat, haben die Bewohner des belagerten Sarajevos in einem Videoarchiv ihren Alltag, ihre Nöte und Sehnsüchte aufgezeichnet und gesammelt. Die Arbeit Vremeplov / Time Machine von Clarissa Thieme zeigt uns eine Wirklichkeit im Krieg, die sich drastisch von jenen Bildern unterscheidet, die wir so scheinbar direkt und ungefiltert über das Internet aus den heute belagerten Städten zu sehen bekommen.
Wenn Wachter/Jud mit ihrer Arbeit BLACKLIST oder Ralph Schulz mit seiner Arbeit Superfreedraw das Unsichtbare sichtbar machen, das Verdrängte, Verbotene, Tabuisierte, Zensierte, dann wird die Verdrängung als eine Vereinfachung sichtbar, die der Komplexität der menschlichen Psyche nicht gerecht wird, nur weil wir sie nicht auszuhalten bereit sind.
Und letztlich ist es ein dystopisches Bild, das Mona el Gamma in ihrer Arbeit Rhizomat VR von einer Zukunft zeichnet, die sich ganz den bequemen Vereinfachungen ergeben hat – hin zu einer betäubten und kontrollierten Schein-Wirklichkeit, die uns so verlockend vor der so komplexen und herausfordernden Realität zu beschützen verspricht.
Kunst ist und bleibt Sisyphos-Arbeit, ein Kampf gegen Windmühlen, in kleinsten Schritten auf der Suche nach den richtigen Fragen, nach Möglichkeiten der Differenzierung und der Unwahrscheinlichkeit von Antworten. Damit gibt die Ausstellung vielleicht einen Ausblick auf das, was an Arbeit vor uns liegt, auf kommende Entwicklungen hin zu einem Blick auf die Wirklichkeit, der niemals wieder einfach und vereinfachend sein kann – einem Blick, der uns die Komplexität unserer Welt vor Augen hält und Wege aufzeigt, konstruktiv mit dieser Komplexität umzugehen. Die Kunst wird den Journalismus nicht ersetzen, aber sie wird immer dann einschreiten und kommentieren, wenn gesellschaftliche Antworten zu destruktiven Vereinfachungen neigen.
Franz Reimer
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