1. Wo warst du, und was hast du gerade gemacht, als Bin Laden getötet wurde? Wie hat dieses Ereignis dich beeinflusst? Und wann hast du damit begonnen, dich von deinem künstlerischen Standpunkt aus für dieses Ereignis zu interessieren?
Ich habe mit einem guten Freund zusammen die Tagesschau gesehen. Für uns kam diese Nachricht aus dem Nichts. Wieder einer dieser Momente, in denen man das Gefühl bekommt, dass sich genau in diesem Augenblick die Welt verändert hat. Was uns neben der Nachricht an sich aber sofort fasziniert hat, war die Tatsache, dass – bevor es irgendein ein „Echtbild“ zu sehen gab – von der Tagesschau schon eine ziemlich fertige Computeranimation vom Geschehen geliefert wurde. Wie konnte das sein? Wenn es nicht einmal Fotos gab, woher kamen dann die Informationen über das Haus, das Gelände, die Abläufe, die die Grundlage für die Animationen bilden? Klar waren es fertige 3D-Bauteile, die für diese Animationen schnell zusammen gebaut wurden und die dann erst von Tag zu Tag immer weiter verfeinert und detaillierter wurden. Dennoch war es das erste Mal, dass eine solche Nachricht auf diese Weise veröffentlicht wurde. Die virtuelle Darstellung ist ja schon eine Reflexion der Informationen an sich, die eine gewisse Verarbeitung, Selektion und Aufbereitung beinhaltet, die in diesem Fall schon vor der Nachricht an sich und einem möglichen Live-Bild davon zu uns gedrungen ist. Es war schon sehr merkwürdig, dass dieses 3D-Modell und der Grundriss des Compounds gezeigt wurden, bevor man angeblich genauer wusste, was denn eigentlich passiert sein soll.
Die mediale Konzentration auf den Compound, das virtuelle Kreisen um dieses Haus und das Grundstück schienen mir über die Tage mehr und mehr wie eine Ablenkung, weg vom eigentlichen Gehalt der Nachricht, hin zu einer merkwürdig sinnlosen Suche nach Details in der Virtualität der Darstellung. Sofort gab es im Netz Programmierer, die ihre eigenen virtuellen Darstellungen erzeugten, und mit den Nachrichtensendungen im Wettlauf eine Spielwelt nach der nächsten in die mediale Öffentlichkeit stellten. Das war wirklich faszinierend. Und so begann ich in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten diese Animationen im Netz und auf den Nachrichtensender-Plattformen zu suchen, zu sammeln, und daraus eine Arbeit zu entwickeln.
2. Warum brauchen die Medien ein Bild von der Tötung Bin Ladens? Warum ist ein Report nur in Worten nicht genug? Deine Arbeit “MIND AND MATTER” setzt sich aus den 3D-Modellen zusammen, die die verschiedenen Nachrichten-Kanäle zeigten, um von der Tötung Bin Ladens zu berichten. Könntest du uns mehr erzählen über die Entstehung dieser Arbeit und ihr Konzept?
Einerseits habe ich die gesamten 3D-Renderings in eine Art Chronologie geordnet, gemäß der Erzählung, die diese Renderings tragen sollten. Ich brauchte nicht viel zu tun, denn die bloße Aneinanderreihung der vielen sehr kurzen Sequenzen bringt die ins Leere führende Redundanz der Nachrichtenschnipsel von ganz allein zu Tage. 11 Minuten lang dreht sich die ganze Virtualität in höchster Dramatik von einem kleinen unwichtigen Detail zum nächsten um die eigene Sprachlosigkeit und das Nicht-Wissen. Denn als wäre darin irgend etwas zu finden, dreht sich die ganze Bildlichkeit um den Compound, das virtuelle Modell des Anwesens Bin Ladens, das die ganze Geschichte im Grunde jedoch nur bildlich zusammen hält. Wie ein Logo wird dieses Modell des Anwesens geschichtliches Sinnbild für die Aktion „Geronimo“ bleiben.
Dieses Modell, das nichts, aber auch wirklich gar nichts über das Geschehen und seine Zusammenhänge aussagen kann, musste ich einfach aus seiner Virtualität heraus übertragen in eine fassbare, greifbare Absurdität. Also baute ich das virtuelle 3D-Modell als kleines reales Modell nach und ließ es einerseits als kleines goldenes Objekt auf einer Stele um sich selbst drehen, und als transparentes Modell mit dem Lichtstrahl eines Beamers durch das Modell hindurch auf eine Leinwand wieder in seine Virtualität zurück projizieren, wo es sich als Schattenbild ebenfalls in aller Ewigkeit vor sich hin drehen kann.
In diesem Modell materialisiert sich die Frage, wozu es ein solches Bild braucht, um eine Nachricht zu transportieren? Wie kann uns eine abstrahierte Animation helfen, die Komplexität der Zusammenhänge des Geschehens zu verstehen? Und soll es das überhaupt? Oder soll es uns einfach nur unserer eigenen Phantasie und Gedanken berauben, mit der wir uns selbst eine solche Nachricht ohne Bilder bebildern würden? Denn wenn diese Bilder einmal in der Welt sind, sind sie eben nicht mehr wegzudenken. Unser Denken und unsere Vorstellung sind nun unweigerlich mit diesen abstrahierten und abstrahierenden virtuellen Bildern verknüpft.
Vielleicht ist es ja nur der ökonomische Zwang des Nachrichten- und Medienwesens, jede noch so kleine Leerstelle besetzen zu müssen, damit es niemand anderes tut. Das Medium Bewegtbild, das sich unbedingt selbst erfüllen muss. Vielleicht ist es auch ein sehr bewusster politischer Wille mit einer konkreten Nachrichtenstrategie gewesen, um die Brisanz des Geschehens und mögliche öffentliche Reaktionen abstrahieren, abmildern und beeinflussen zu können. Vielleicht ging auch beides Hand in Hand. Das weiß ich nicht.
Es ist jedenfalls nicht einfach, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn es wirklich keine Bilder oder Darstellungen zu dieser Nachricht gegeben hätte. Wie hätte dieses „innere“ Bild ausgesehen, das sich die Gesellschaft von dieser Nachricht gemacht hätte?
3. In deinem Video “JUSTICE HAS BEEN DONE” verwandelst du dich in all die Charaktere in dem berühmten Foto “The Situation Room” des Fotografen Pete Souza. Wie kam es dazu?
Das Foto war mir zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung überhaupt nicht aufgefallen. Ich habe in meiner Auseinandersetzung mit den Animationen die ganze Zeit vor dem Fernseher verfolgt, was passiert. Die Tagespresse habe ich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht wahrgenommen. Ich bin erst über ein Jahr später wieder auf das Foto gestoßen, im Rahmen eines Seminars zur Kriegsfotografie. Und erst dann erkannte ich dieses Foto als ein absolut neuartiges und einmaliges Kriegsfoto. Vielleicht als das zivilisierteste Kriegsfoto, dass es jemals gegeben hat. Aus dieser Erkenntnis heraus wollte ich eine Arbeit mit dem diesem Foto entwickeln.
Am Anfang war da kein Konzept. Da waren das Bild und ich. Und mein Bedürfnis, in diesem Bild und durch dieses Bild etwas über das Geschehen und seine Zusammenhänge zu erfahren. Der einzige Rahmen für mich war dieses Bild. In meinem Bedürfnis, so tief wie nur möglich in dieses Bild einzutauchen, bin ich zu dem Schluss gekommen, den Raum und die Situation, die darin gezeigt werden, in einem realen Verhältnis nachbauen zu müssen. Ich wollte in dieses Bild und in die Situation hereintreten können. In der Hoffnung, dadurch mehr erfahren zu können.
Nach einigen Wochen Arbeit und einem vorsichtigen Herantasten an einen sinnvollen Grad an Detailtreue, stand ich dann in diesem Raum und sah mich im Bildschirm auf einmal selbst genau in diesem Bild stehen. Und dann war mir sofort klar, dass ich ein filmisches Reenactment drehen musste. Keines mit Schauspielern, sondern allein aus mir selbst heraus, aus meiner Perspektive, in meiner Suche nach dem Wesen des Bildes. Das, was das Video am Ende meiner Suche geworden ist, hat sich Schritt für Schritt von allein ergeben. Die Layer, das Timing, die Ansprache, alles hat sich aneinander und ineinander gefügt. So ist daraus sowohl die Closed-Circuit-Installation als auch das Video entstanden.
4. Viele haben behauptet, dass Bin Laden selbst nur ein Bild war, ein “fake character”, ein politisches Symbol, ein obskures Phantom. Wer kann mit Sicherheit sagen, dass er nicht schon Jahre früher getötet wurde? Warum war das Töten seines Bildes so wichtig? Und warum ist das Medienbild seines Todes künstlich?
Bin Laden war und ist als Symbol für Terrorismus sicherlich um einiges größer, als es der Mensch Bin Laden je hätte sein können. Und an dieser Konstruktion des Symbols, an der Konstruktion des Bildes, waren beide Seiten des Konflikts sehr interessiert. Als Gesicht und Symbol des Bösen schlechthin diente Bin Laden als unendliche und unendlich instrumentalisierbare Projektionsfläche unserer Ängste.
Die Strategie des Weißen Hauses in der Kommunikation zur Erschießung Bin Ladens ist dabei sehr interessant. Denn sie haben es geschafft, den Menschen Bin Laden zu töten, ohne jedoch sein Bild zu beschädigen. Das Bild als Projektionsfläche unserer Ängste ist intakt geblieben. So wie das Bild Adolf Hitlers, von dessen Tod es auch kein Foto gibt. Auch sein Bild ist bis heute intakt und funktioniert als Projektionsfläche unserer Ängste. Ähnlich ist es mit den Mausoleen in Moskau und anderswo. Die äußerlich unversehrten Körper dienen als Projektionsfläche. Dabei erscheint es mir immens wichtig, dass wir nicht die verwesenden, zerstörten Körper, sondern das intakte Antlitz sehen können. Erst dadurch bleibt die Symbolik erhalten. Es ist interessant, im Vergleich dazu die Bilder des gehängten Saddam Husseins und des getöteten Gaddafi zu betrachten. Diese Bilder haben unsere Projektionsflächen wieder auf das menschliche Antlitz zurückgeführt. Wir haben Körper erbärmlich bluten und sterben gesehen. Die Symbole sind entmystifiziert. Sie machen uns keine Angst mehr. Diese beiden Männer sind überwundene Geschichte. Es waren augenscheinlich nur Menschen.
Wenn man der Argumentation des Weißen Hauses folgt, nach der die Bilder des toten Bin Ladens nicht gezeigt werden, um religiöse Gefühle zu schonen, und den Konflikt nicht anzuheizen, dann ist genau das Gegenteil richtig. Denn die Symbolik lebendig zu halten, bedeutet, dass man die Projektionsfläche des Bösen weiterhin braucht. Es ist dem Weißen Haus einerseits gelungen, einen Sieg zu erringen, da man den Feind faktisch getötet hat, andererseits aber auch den Konflikt selbst am Leben zu erhalten, indem man das Bild des Feindes lebendig erhält. Dass es also keine „echten“, sondern nur artifizielle Bilder von der Tötung Bin Ladens gibt, erscheint mir als eine wichtige Strategie in der Rechtfertigung der amerikanischen Außenpolitik. Dass die Medien keine Antwort darauf gefunden haben, sondern in ihrer Abhängigkeit von der Bildlichkeit diese Strategie unterstützten, ist wirklich sehr entmutigend. Es wäre sicherlich konsequent gewesen, die Abstraktion zu vermeiden und statt dessen das NICHTS der fehlenden Bildlichkeit zu zeigen, um wirklich deutlich zu machen, worum es hierbei ging.
5. Ich habe “JUSTICE HAS BEEN DONE” als Kommentar auf die vielen verschiedenen Sichtweisen gelesen, die man heutzutage haben kann, wenn man ein Ereignis in den Medien betrachtet: Je mehr Betrachtungswinkel man hat, desto weniger sieht man, desto weniger weiß man mit Sicherheit? Ist dies ein Bild für die scheinbar unbegrenzten Nachrichtenquellen, die im Internet und den Sozialen Medien verfügbar sind?
Die Voraussetzung, dass ich wirklich nichts weiß darüber, was die abgebildeten Betrachter im Foto “The Situation Room” auf ihrem Monitor gesehen haben, ist ein entscheidender Ansatz meiner Arbeiten, sowohl des Videos “JUSTICE HAS BEEN DONE” als auch der Installation “THE SITUATION ROOM”. Ich kann noch so viel recherchieren, ich werde nie mit Gewissheit eine Aussage darüber treffen können. Wenn ich es also nicht weiß, kann ich darüber auch keine Aussage treffen. Das hat meinen Fokus auf das gelenkt, worüber ich aber eine Aussage treffen kann. Nämlich über das, und nur das, was ich auf diesem Foto tatsächlich sehen kann, und über mich als Betrachter dieses Fotos. Im Endeffekt ist die Arbeit eine Verknüpfung dieser beiden Perspektiven. Da ist das Bild und da ist der Betrachter des Bildes. Das ist die einzige Verbindung. Und diese Verbindung mache ich erfahrbar. Ich mache erfahrbar, dass da nichts anderes ist. Wenn der Betrachter in die Installation tritt, wird er nichts anderes im Bildschirm sehen können als sich und das Bild, jedoch in einer realen Verschränkung. Ich denke es ist wichtig, genau das klar zu machen. Bei allen Nachrichten, bei allen Bildern und Texten und Kontexten, können wir oft nicht mehr wissen, als, dass wir gerade ein Bild sehen, einen Text lesen, einen eigenen Hintergrund haben. Wir wissen wirklich sehr wenig. Und damit müssen wir lernen umzugehen. Das ist der wichtige Punkt. Bei aller Demokratie und Pressefreiheit wissen wir wirklich sehr, sehr wenig über das, was gerade passiert. Es hilft ungemein, sich bewusst zu machen, was man eigentlich weiß und vor allem, was alles nicht. Es hilft dem eigenen Fokus, es hilft, herauszufinden, was man eigentlich wirklich tun kann, wenn man sich dazu verhalten will.
Bilder allein haben meist sehr wenig Informationsgehalt, es sind Momentaufnahmen in einem sehr eingeschränkten Rahmen. Sie sind sowohl in ihrer Entstehung, als auch in ihrer Verbreitung sehr kontextabhängig. Und dieser Kontext ist immer konstruiert. So werden Bilder schnell zu Symbolen für etwas, ohne dass sie selbst als Bild eine wirkliche Aussagekraft haben. Sie sind nur scheinbare Zeugnisse.
Worum also ging es nun genau in diesem Bild? Ging es um Bin Laden? Ging es um den Präsidenten? Ging es um die Opfer des 11. September? Oder ging es eigentlich nur um uns? Die Millionen Betrachter dieses Fotos? Und wenn das so ist, was genau will dieses Foto von uns? Wie will dieses Foto, dass wir uns zu ihm verhalten? Ich denke, wenn wir über die Konstruktion eines Fotos nachdenken, können wir sehr viel mehr über die Wirklichkeit herausfinden, als uns ein Foto in seiner Bildlichkeit selbst zeigen kann.
6. Im Ersten Golfkrieg, vor der weiten Verbreitung des Zugangs zum Internet, sahen wir grüne Nachtsicht-Videos im Fernsehen von der Bombardierung des Iraks. Uns wurde erzählt von sogenannten “smart bombs”, deren “surgical strikes” man live im Fernsehen verfolgen konnte. Seitdem hat die Welt sich rapide und dramatisch verändert durch die Digitalisierung. Wie, würdest du sagen, hat das Internet die Sichtweise von Nachrichten verändert?
Schon damals wurde viel über die Abstraktion des Krieges in diesen Bildern gesprochen, und es entstanden auch viele künstlerische Arbeiten dazu. Ich denke, man muss dazu den zweiten Gesichtspunkt dieser Bildstrategie immer mitbetrachten. Nämlich den „eingebetteten Journalismus“. Beides diente eindeutig der Einschränkung und Kontrolle des Bildflusses. Keine Bilder zu zeigen, war und ist keine Alternative. Es musste und muss immer Bilder geben. Die Medien müssen gefüttert werden, die Heimatfront gesteuert. Die Abstraktion dieser Bilder sollte einerseits die absolute technische Überlegenheit zeigen, andererseits das vergossene Blut kaschieren, einen sauberen, unblutigen, politisch korrekten Krieg zeigen. Und der eingebettete Journalismus sollte dafür sorgen, dass keine andere Art von Bildern nach außen dringt.
Wir wissen heute, dass diese Strategie gescheitert ist. Die Digitalisierung des Bildes, die diese Abstraktionen erst ermöglichte, ist ja zugleich Grundlage der Entstehung des Internets gewesen. Und das Internet hat wiederum eine so vereinfachte Bildproduktion und Distribution ermöglicht, dass dem Feind damit eine genauso mächtige Waffe in die Hand gegeben wurde. Und er antwortete. Mit dem konkreten Bild. Mit dem grauenhaften, blutigen Bild.
Das Internet hat den Fluss der Bilder derart beschleunigt und fast unkontrollierbar gemacht hat, dass alle Versuche, das Netz wieder einzuschränken, bisher gescheitert sind. Wodurch immer wieder Bilder zu uns dringen, die wir eigentlich nicht sehen sollten. Und das meint alle Parteien des Medien-Krieges. Die Gegner des Westens zeigen genauso ihre „chirurgischen“ Schläge. Wir sehen Zeugnisse eigener Folter- und Gräueltaten, wir sehen geleakte Bilder und Texte.
Ich glaube sehr daran, dass die mediale Wirklichkeit die reale in ihrer Gesamtheit sehr klar spiegelt, im realen wie im psychologischen Sinne. Das schließt die geschönte Wirklichkeit wie die ganz reale Härte des menschlichen Daseins ein. Das Ringen um Kontrolle und der Widerstand dagegen. Das Netz verändert die Welt und die Welt verändert das Netz.
Das Internet hat tatsächlich die ganze Komplexität der globalen Kommunikation in die Öffentlichkeit getragen. Und ja, umso mehr wir sehen, um so weniger wissen wir! Wir sehen einen sehr komplexen Kommunikations-Krieg im Netz. Ein doppelt doppeltes Spiel. Nicht jedes Gräuel-Foto kommt vom Gegner, sondern könnte jederzeit von der eigenen Seite lanciert worden sein, um die Heimatfront zu aktivieren oder zu deaktivieren. Manipulation ist dem Bilderfluss eingeschrieben. Es ist ein Netz, und darin sind eindeutige und geradlinige Wege kaum nachzuvollziehen, weil sie eigentlich nicht existieren.
Am Ende ist klar, dass wir auf eine gewisse Art durch das Internet sehr viel mehr erfahren, was auf der Welt passiert. Gleichzeitig ist die Komplexität des Bilderflusses so hoch und undurchsichtig, dass man durchaus sagen kann, dass wir gleichzeitig weniger über das wissen, was wir dort eigentlich wirklich sehen.
7. “JUSTICE HAS BEEN DONE” wurde zuerst als Video-Installation unter dem Namen “THE SITUATION ROOM” ausgestellt, in der das Ausstellungspublikum mit dem Situation-Room-Filmset interagieren konnte. Wie in einem Spiegel konnte sich das Publikum innerhalb der Installation auf dem Monitor betrachten, der genau an die Stelle auf dem Schreibtisch platziert war, an der die Obama-Administration im Foto die Tötung Bin Ladens betrachtet. Es fällt auf: in beiden deiner Arbeiten zeigst du die Betrachter und nicht die Akteure. Dies ist auch ein klassischer Zug der antiken Tragödie: besser nicht die Aktion auf der Bühne zeigen, besser den Betrachter der Aktion zeigen. Das Publikum stellt sich dann selbst die abwesende Aktion vor, wodurch ein viel stärkeres und einprägsameres Bild entsteht als das, welches man auf der Bühne zeigen könnte. War das eine bewusste Entscheidung?
Es ist die dem Presse-Bild selbst eingeschriebene Strategie des Weißen Hauses, die ich in meiner Arbeit gespiegelt und dadurch sichtbar verstärkt habe. Schon als Betrachter des Presse-Bildes sehen wir ja nur die Reaktion in den Gesichtern der Betrachter des Geschehens. Eigentlich muss ich die Frage an das Weiße Haus weiterleiten. Die Frage ist also, warum wollte das Weiße Haus, dass wir uns das Geschehen in Abbottabad anhand der Mimik und Gestik der fotografierten US-Regierungsmitglieder selbst vorstellen? Darüber haben wir ja vorhin schon gesprochen.
Dass wir nicht zu sehen bekommen, wovon das Bild scheinbar spricht, ist so wesentlich und so einzigartig für das Medienzeitalter, dass ich in meiner Arbeit genau darauf Bezug nehmen wollte und musste. Deshalb ist es mir sehr wichtig, dass es auch im Video nichts zu sehen gibt. Denn das Weiße Haus wollte uns ganz sicher nicht von Bin Laden erzählen. Das Presse-Foto spricht und spiegelt allein die eigene Position und unser Verhältnis als Betrachter zu der dargestellten Situation.
Und es spiegelt zudem eine wichtige Wahrheit, nämlich dass wir uns als Zentrum der Welt natürlich nur um uns selbst drehen. Dass Figuren wie Bin Laden nur als Projektionsflächen dienen, zu denen wir uns verhalten können und sollen. Ein Phantasma. Es geht in der Strategie des Weißen Hauses ganz entschieden nur um unsere eigene Haltung zu diesem Phantasma.
Wenn wir das jedoch erkennen, stellt sich die Frage, wie gehen wir damit um? Lassen wir uns von unseren Phantasmen tatsächlich dazu verleiten, unsere eigenen Regeln und Gesetze zu verletzen? Ja, das tun wir. Die westliche Welt versammelt sich geschlossen dahinter. Sie identifiziert sich selbst angesichts des Phantasmas. Das ist der Kern des Fotos. Und nur innerhalb dieses Rahmens verhalten wir uns untereinander, ordnen uns ein, positionieren uns zueinander, handeln die Frage der Gerechtigkeit untereinander aus. Mit dem Rest der Welt hat das leider wirklich nichts zu tun. Der Rest der Welt ist das, was wir auf diesem Bildschirm nicht zu sehen bekommen. Wir sitzen in einer Blase, deren Wand unseren Blick immer nur auf uns zurück spiegelt. Das ist der Punkt, der mir in meiner Arbeit wirklich wichtig ist und der darin auch tatsächlich erfahrbar wird. Denn das ist genau das, was uns die Blase verwehrt, den Blick von außen auf uns selbst.
Im Oktober wird der neue Film “HyperNormalisation” von Adam Curtis veröffentlicht werden. Und ich bin sehr gespannt darauf. Der Film wird sich genau mit dieser eigenen Blase beschäftigen, ihrer Entstehung, ihrem Wesen und ihrer Konsequenzen für uns und für den Rest der Welt.
8. Man könnte natürlich auch argumentieren, dass die Menschen, die wir im “Situation Room” sehen, nicht die Betrachter sind, sondern die eigentlichen Akteure, die hinter Computer-Screens sitzend die Befehle geben. Siehst du sie eher als distanzierte Killer, wie die Operateure von Dronen-Attacken, die in einem anderen Land sitzend töten können, abgelöst von der Realität? Macht sie das vielleicht sogar weniger schuldig? Sind sie dadurch befreit von der Macht der Justiz?
Das Presse-Foto hat natürlich auch eine sehr konkrete Wirkung auf das Außerhalb unserer Blase. Der Rest der Welt sieht ja nicht seinesgleichen in diesem Bild, der Rest der Welt sieht sich genau dort, wo das Geschehen ausgeblendet und abgeschnitten ist, inmitten und als Teil des Phantasmas, das in diesem Foto betrachtet wird. Und er sieht sich einer Administration in Zivil gegenüber, die in stoischer Selbstgerechtigkeit Killerkommandos und Dronenangriffe in den Rest der Welt schickt, aber jede Verantwortung und jede Erklärung nur unter sich selbst, in ihrem eigenen und allen anderen unzugänglichem Wertesystem, zu klären braucht. Dieses Foto und auch die Rede Obamas senden eine sehr klare Botschaft: Wer auch immer sich in die Gefahr begibt, Teil des Phantasmas der westlichen Welt zu werden, wird verfolgt werden, wird gefunden werden, wird sich unerbittlich dieser Vorstellung von Gerechtigkeit beugen und von ihr gerichtet werden. Ohne dass irgend jemand sich dafür schuldig fühlen wird.
Denn die Blase ermöglicht uns, uns selbst tatsächlich weniger schuldig zu fühlen. Die Schuld wird einerseits ausgelagert, an das Phantasma des Bösen. Und das Bild der Vollstreckung wird immer weiter abstrahiert und kaschiert. So wie bei den Dronenangriffen sehen wir auch bei diesem „chirurgischen“ Einsatz in Abbottabad kein Blut mehr, keine Opfer. Wir wissen nur, dass die Terroristen tot sind, der “Gerechtigkeit” übergeben.
Ich denke, der Gedanke der Gerechtigkeit wird hier abstrahiert zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Eine Gerechtigkeit, die über den Menschen Obama hinaus geht, also etwas, das nicht in seiner Hand liegt, das der eigenen Logik von Gerechtigkeit folgt, die unserer Blase quasi eingeschrieben ist, und der auch er nur gefolgt ist.
Obama gelingt der Spagat, einerseits natürlich machtvoll verantwortlich zu sein, als siegender Präsident, andererseits erscheint er aber auf keinen Fall als der Henker. Der Henker ist unsichtbar. Die Administration wirkt hier eher wie Geschworene, als gewählte Vertreter und als Hüter unserer Werte, die Schuld gesprochen haben, und nun der Gerechtigkeit bei ihren Lauf zusehen. Der Satz lautet ja auch, der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Nicht, ich oder wir haben der Gerechtigkeit Genüge getan.
9. Obama’s Rede ist ein linguistisches Meisterwerk. Sie soll zu Tränen rühren und an die Ehre der US-Amerikaner appellieren: er spricht von Soldaten, die ihren Dienst tun, vom Verlust von geliebten Menschen, davon, “was dieses Land so großartig macht”. Er preist Gott und Amerika als die großartigste Nation, und vielleicht am Wichtigsten, stellt ein Gefühl von Recht und Gerechtigkeit her. Er wiederholt dreimal im Laufe der Rede “Justice has been done”. Nach der Verfassung kann “Justice” aber nur durch ein Gerichtsprozess hergestellt werden. Diesen Prozess hat es aber gerade im Fall Bin Laden nicht gegeben. Ein Mann, von dem berichtet wird, dass er Bin Laden wäre, wurde zusammen mit Teilen seiner Familie getötet, ohne Verhaftung, Prozess oder weitere Untersuchungen. Danach wurde die Leiche ins Meer geworfen. Meiner Meinung nach, eine sehr verzerrte Version von Rechtsstaat. Ist das die Rechtsauffassung des militärischen Siegers, der über dem Gesetz steht? Denkst du, dass dies der Grund ist, warum Obama das Wort “Justice” so betont? Wie war dein Arbeitsprozess mit dieser Rede?
Ja, die Rede bestätigt in ihrem ganzen Wesen noch einmal ganz eindeutig meine Überlegungen zu der Strategie des Presse-Bildes. Die Rede untermauert die Rechtmäßigkeit des Handelns durch die Beschwörung der eigenen Opferrolle und des Phantasmas Bin Laden, des moralischen Rechts auf Rache und Wiedergutmachung, und lagert die rechtliche Problematik somit allein an das Phantasma aus. Daraus wird dann zugleich eine eindeutige Drohung an den Rest der Welt, die sich dieser Gerechtigkeit niemals wird entziehen können. Das Imperium ist das Imperium, es folgt nur seiner eigenen Rechtsvorstellung, und es wird seine Rechtsvorstellung gegenüber dem Rest der Welt durchsetzen. Dort, wo das Bild eher subversiv spricht, wird die Rede sehr konkret und deutlich. Beides gehört eng zusammen. Ein wenig wie das “Good Cop-Bad Cop”-Spiel, nach innen wie nach außen.
Die Tatsache, dass in diesem Bild nur eine Uniform und ansonsten sehr viel Zivilkleidung zu sehen ist, ist dabei sehr wichtig. Dort wo die Rede martialisch wird und nach Rache schreit, beteuert das Foto das nötige Maß an Zivilisiertheit und Überlegtheit im Handeln.
Gleich einem Opfer bezeugt das Bild, dass die Administration die Gesetze brechen musste, um das Richtige zu tun, als Akt der Vernunft, des Notwendigen. Als schwerer Gang, aber noch immer im Rahmen demokratischer Organisation und moralischen Bewusstseins. Und es bindet uns natürlich sehr direkt ein, mehr als es ein Foto von Männern in Kampfuniformen je könnte. Wir stehen bildlich Seite an Seite mit unseren Vertretern, als stünden wir selbst als Zeugen dabei. Ja, das Verhältnis von Bild, Wort und Tat weist einige Symptome von Schizophrenie auf. Aber es funktioniert. Sehr gut sogar.
10. “JUSTICE HAS BEEN DONE” zeigt auf wunderbare Weise die vielen Schichten einer politischen Botschaft. Ein einzelnes Pressefoto kann so viele Schichten an Information bergen. Für den geschulten Blick erscheint es als manipulativ, geplant und konstruiert, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen. Würdest du sagen, dass du als Künstler einen skeptischen, distanzierten und kritischen Blick trainiert hast, der versucht, die Struktur offenzulegen und nicht zu schnell zu urteilen?
Als Medienkünstler ist es mir natürlich ein zutiefst inneres Bedürfnis, auf all die Bilder, um die ich nie gefragt habe, die jedoch ununterbrochen auf mich einstürzen, eine Antwort zu finden, eine angemessene Reaktion. Das meint ja nicht nur die Bilder aus politischen Zusammenhängen, sondern auch aus denen der Werbung, des Fernsehens und aller anderen Medien. All diese Bilder sprechen mich ja an, ob ich will oder nicht. Es ist mir unmöglich, sie zu ignorieren.
Es ist im Grunde also ein ganz persönlicher Ansatz, für mich selbst ein Verhältnis zu diesen Bildern zu finden, eine Distanz zu schaffen, einen Kontext herzustellen, aus dem heraus ich diese Bilder verstehen und interpretieren und Antworten darauf entwickeln kann.
Meine eigene Perspektive ist in diesen Prozess natürlich eingeschrieben, davon kann ich mich nicht lösen. Aber zuerst ist es ein Akt des Verstehenwollens und -müssens. Gerade im Fall dieser Arbeit glaube ich, dass die Arbeit und ich als Autor darin keine konkrete Aussage treffen. Es ist der Kontext, die Verschiebung an sich, die das Werk zur Wirklichkeit erzeugt, und die dadurch entstehende Distanz, die neue Lesarten und Gedankenräume für den Betrachter öffnet. Wie die Arbeit dann gelesen wird, darauf habe ich aber wenig Einfluss.
11. Möchtest du, dass dein Publikum weiß, wo du politisch stehst? Hast du eine generelle Meinung zu Kunst, die zeitgenössische Politik kommentiert?
Ich habe kein Problem damit, meine politische Sicht zu formulieren. Das tun wir ja in diesem Gespräch bereits. Dies jedoch direkt im Werk zu tun, ist nicht notwendig, denn ich denke, dass Distanz herzustellen und Gedankenräume zu eröffnen, der Wirklichkeit im Sinne des Status Quo entgegen zu arbeiten, per se schon ein politischer Akt ist. Distanz ist kritisch. Die andere Perspektive ist kritisch. Schon die Wahl des Themas ist kritisch.
Denn sich bestimmter Themen nicht anzunehmen, wäre im gleichen Sinne politisch, nur eben falsch, weil es die Verweigerung von Kritik ist. Ja, ich finde es wirklich wichtig, dass sich Kunst mit der zeitgenössischen Weltpolitik auseinandersetzt, weil es wichtig ist, diese Distanzen schon im Hier und Jetzt herzustellen, Lesarten zu variieren, Vielschichtigkeit im Wahrnehmen und Denken zu erzeugen. Denn das ermöglicht ja überhaupt erst das Gespräch über diese Bilder und Themen. Glaube ich also an einen Einfluss von Kunst auf die Wirklichkeit? Ich hoffe es jedenfalls sehr. Solange Kunst ein Darübersprechen, ein Überdenken, ein Wahrnehmen und Fühlen ermöglicht. Wie weit dieses Sprechen Einfluss auf die Diskussionen in der Gesellschaft hat, ist eine Frage an die Gesellschaft, inwieweit sie sich dem Potential von Kunst öffnet, zulässt und sucht. Dass die Kunst immer mehr aus der öffentlichen Hand in die private überlassen wird, ist kein gutes Zeichen. Dass eine Gesellschaft noch immer oft Kunst als eine Sphäre außerhalb der Wirklichkeit betrachtet, sie also nicht ernst nimmt, sondern sich wie einen Luxus leistet oder eben auch nicht, zeugt von einer Gesellschaft, die noch immer nicht zum Sprechen über sich selbst bereit ist. Und ich sehe es als elementare Aufgabe der Kunst, die Gesellschaft zum Sprechen über sich selbst zu verführen.
12. Stimmst du zu, dass es sehr schwierig ist, eine künstlerische Sprache für weltpolitische Themen zu finden ohne sofort parteiisch zu sein?
Ja, es ist unglaublich schwierig, sich mit der politischen Gegenwart auseinanderzusetzen. Man läuft einerseits selbst Gefahr, die künstlerische Distanz nicht zu erreichen, zu sehr zu vereinfachen, immer noch zu dicht dran zu sein, um eine wirklich freie künstlerische Position entwickeln zu können. Das liegt im Wesen der Aktualität. Man arbeitet ja nicht in einer ruhigen Ausgangslage, alles ist noch in Bewegung, die „Faktenlage“ ist unklar, die Geschichte ist noch nicht geschrieben. Die Gefahr ist groß, in dem Versuch Distanz zu schaffen, in eine Postion zu rücken, die man selbst nicht überblickt. Aber diese Positionen sind schwer zu berechnen, sie bewegen sich ja. Und andererseits ist es in dieser Bewegung und in dieser Spannung auch immer möglich, von einer bestimmten Seite vereinnahmt und instrumentalisiert zu werden.
Aber sich deswegen eines Themas zu verweigern, ist für mich keine Alternative. Es ist eine Herausforderung für den Künstler, vielleicht sogar die größte. Und es stellt sich natürlich auch die Frage, ob es denn falsch ist, Partei zu nehmen und eine Position zu beziehen? Ist Neutralität ein Kriterium der Kunst? Das glaube ich nicht.
13. Was ist dein nächstes Projekt? Hast du jemals darüber nachgedacht, dich mit den Enthüllungen von Edward Snowden zu beschäftigen? Verfolgst du die bevorstehenden Wahlen in den USA?
Im Moment drehen sich meine Fragen eher um das Verständnis des Medien-Kunstwerks im Zusammenhang unserer digitalen und technologischen Wirklichkeit. Als Kurator und Ausstellungsarchitekt begreife ich das mediale Kunstwerk nicht als geschlossenes System. Video- und Medienkunst, die ja nicht grundlos zeitbasierte Kunst genannt werden, müssen ein offenes Verhältnis zur Zeit und zu ihren benutzten Medien behalten. Gerade die Tatsache, dass die meisten Werke im Grunde nur aus digitalen Codes, also aus interpretierbaren verschriftlichten Konzepten bestehen, fordert und ermöglicht ein offenes Spiel mit der Form ihrer Repräsentation. Das digitale Werk wird sowieso in jeder einzelnen Repräsentation neu interpretiert. Warum nicht dieses grundlegende Wesen dazu nutzen, im Betrachten und Ausstellen von medialen Kunstwerken eine Offenheit und Prozesshaftigkeit zu praktizieren, die es dem Werk in einer gewissen Autonomie und Zugänglichkeit ermöglicht, sich immer neu zu verwirklichen, und im Kontext immer anderer Arbeiten, neuerer Medien und aktueller Zusammenhänge weiterzuentwickeln?
Ich will keinem Künstler das Recht absprechen, sein Werk als abgeschlossen zu betrachten, eine Setzung für die formale Repräsentation zu treffen, die Arbeit also in einem bestimmten Zustand als fertig, unveränderbar und exklusiv zu erklären. In meinem Augen aber ist es eine krasse Beschneidung des Potentials einer Arbeit. Im Grunde verstehe ich das mediale Kunstwerk immer als eine Versuchsanordnung, deren materielle Elemente im Fluss der Zeit vollkommen variabel sind. Und ich verstehe es als Herausforderung und als das der Medienkunst eigene Potential, diese Versuchsanordnung immer wieder neu zu entwickeln, umzuarbeiten und anpassen zu müssen. Ich sehe einen ungeheuren Raum von Möglichkeiten und Schichten, die in einem medialen Kunstwerk verborgen sind, die entdeckt, sichtbar und wahrnehmbar gemacht werden wollen. Ich glaube, dass darin eine Möglichkeit der Medienkunst besteht, eine eigene Berechtigung über die bisherige Definition des Kunstwerks hinaus zu erlangen. Den Begriff des Kunstwerks mit einer unbestimmbaren Variable zu erweitern.
Wenn du mich also fragst, ob ich eine Arbeit zum Fall Snowden machen will, dann muss ich sagen, dass mich der konkrete Fall als politisches und mediales Ereignis in seinen Details nicht so sehr interessiert wie die Verschiebung unserer eigenen Perspektive auf unsere Wirklichkeit, die der Fall Snowden so symptomatisch aufzeigt. Denn in einem gewissen Sinne betrifft es die Problematik des Kunstwerks auf eine sehr ähnliche Weise.
Das Digitale hat die Welt verändert. Und es fordert unser Verständnis von Wirklichkeit grundlegend heraus. Das Digitale, wie schon vorher die Technologie im Allgemeinen, ist das Versprechen und die Möglichkeit eines wirklichen Fortschritts im Sinne wirklicher Transparenz, wirklicher Teilhabe, wirklicher Gleichheit. Und im Fall Snowden oder in den beiden aktuellen Präsidentschaftskandidaten in den USA sehe ich einen erbitterten Widerstand gegen diesen Fortschritt, gegen diese Veränderung, gegen die Zukunft. Das Digitale als absolut autonomes und offenes System von Codes, mit all seinen Möglichkeiten, die Welt zu verändern, wird in überholte Ordnungssysteme von Eigentum, Urheberschaft, Originalität, Verwertungsrechten, Zugang und Ausschluss gefangen. Und Snowden ist als Phänomen ein sehr gesundes und dem Digitalen eingeschriebenes Korrektiv. Ein Symptom des befreienden Potentials des Digitalen.
Ich fürchte, dass es in der Kunstwelt nicht anders ist. Dass es der Medienkunst noch immer so schwer fällt, sich in die Produktions- und Verwertungsstrukturen der Kunst einzufügen, liegt offensichtlich einfach daran, dass sie einfach nicht in diese überholten, nicht digitalen Strukturen hinein passt. Der Code hat halt keine Form, es ist ein System von Sprache, das interpretiert werden muss, um zum Bild oder zur Skulptur zu werden. Das Medienkunstwerk entspricht einer sprachlichen Versuchsanordnung, für die in Abhängigkeit zur Technologie unendlich viele Formen der Materialisierung möglich sind. Wir tun aber, als dürfte es nur eine einzige geben. Das ist absurd. Das kann nicht die Zukunft der Medienkunst sein. Ich denke, der Medienkunst liegt ein Potential inne, das erst noch begriffen und das vor allem befreit werden muss, an dem gearbeitet werden muss. Und vielleicht kann diese Arbeit ein Sprechen über die Möglichkeiten des Digitalen Zeitalters im Allgemeinen ermöglichen.
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