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Aktuelles Forschungs- & Arbeitsprojekt
Franz Reimer / Kunstunterricht 7. Klasse / 1989/90
„Man kann sich die Geschichte länglich denken.
Sie ist aber ein Haufen.“ / Thomas Heise
Ich bin 1977 geboren, gehöre zur 3. Generation Ost und habe bis zur Wende meine Wirklichkeit als Kind in der DDR erlebt – so wie meine Eltern ihr halbes und meine Großeltern fast ihr ganzes Leben. Nach nun über 30 Jahren – und bevor die Generation meiner Eltern verschwindet – will ich meine Biografie als Konsequenz und im direkten Zusammenhang des deutschen wie europäischen (Ost-)Kolonialismus, Militarismus und Imperialismus untersuchen und begreifen.

Zum anderen will ich noch genauer untersuchen, welche kreativen, freiheitlichen und demokratischen Potentiale sich selbst aus diesem Erbe heraus in die Wende in der DDR hinein entwickelt und Bahn gebrochen haben – und die mit dem proklamierten „Ende der Geschichte“ und der konstatierten „Übernahme“ wieder verloren gegangen sind.

Ich glaube, dass es in der 3. Generation Ost noch immer ein großes und vor allem ungenutztes Potential für eine tiefere Aufarbeitung und eine mögliche Anknüpfung an eine progressive Entwicklung neuer demokratischer Prozesse und Strukturen gibt. Denn die Publikationswelle in den letzten Jahren zeigt, wie sehr eine Aufarbeitung und ein Wille zu einer neuen Sichtbarkeit, einer neuen (Mit-)Sprache und (Mit-)Gestaltung drängt. Es schlummern noch immer Traumata und es schlummern noch immer Träume in uns … die Frage ist nur, welche zuerst zum Leben erweckt werden.

In der autobiografischen Recherche wie in der Arbeit in den aktuellen Diskursen & Archiven will ich eine neue Perspektive öffnen, mit der die Erfahrung Ost nicht mehr allein als Fehler in der Geschichte oder falsch gelebtes Leben verdrängt, sondern mit der dieses Leben und diese Erfahrung als Potential lesbar wird – und mit der sich in der gesamtdeutschen und europäischen Geschichte und Wirklichkeit wieder ein damals verpasster kultureller und gesellschaftlicher Möglichkeits-Raum öffnen lässt.
PROLOG
GESTERN, HEUTE, MORGEN oder ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT
Die eigene Biografie als Ostkind besteht nach 30 Jahren nur noch zu einem Bruchteil aus der eigenen Erfahrung. Sie ist nach all der Zeit zu einem übergroßen Teppich aus unzähligen Fragmenten von Erfahrungen und Erzählungen und Ideen aus den verschiedensten Biografien aus der DDR-Zeit geworden, das in seiner Gesamtheit ein überaus komplexes und diverses – aber auch ein umfassendes Bild ergibt. Eine ganz eigene Wirklichkeit, ein ganz eigenes Universum.

Trotzdem macht dieser kleine Bruchteil der direkten eigenen Erfahrung den entscheidenden Unterschied aus, um all diese Fragmente zusammensetzen und einordnen und nachspüren und wirklich verstehen zu können. Diese Komplexität der eigenen Erfahrung macht es im Grunde unmöglich, überhaupt ein Gesamtbild vermitteln und teilen zu können.

So bleiben alle Gespräche mit Nicht-DDR-Bürgern, auch mit den zugewandtesten Geistern, in einem gewissen Sinne gescheiterte Gespräche. Es bleibt eine eklatante Differenz zu jedem Austausch mit genau jenen Biografien, mit denen ich tatsächlich die eigene gelebte Erfahrung in diesem vergessenen Land teile. Weil sie Erfahrung aus einer unmittelbaren, einer damals nicht anders denkbaren und so sehr konkreten, aber endgültig verschwundenen Wirklichkeit sind.

Es ist eine schmerzhafte Erkenntnis. Dass sich diese Geschichte nicht vermitteln lässt, weil es vergangenes Leben ist, das sich eben nicht mehr nacherfahren lässt. Dass sich eine solche Erfahrung in einem Innen ein- und ein Außen ausschließt.

Doch wie lässt sich eine derart in der Zeit verschlossene Wirklichkeit öffnen? Wie könnte die Öffnung einer solchen Zeitkapsel eine neue Perspektive eröffnen für ein erweitertes Sprechen über die Wahrnehmung unserer Zeit und unseres Lebens heute? Oder vor allem unserer Zeit und unseres Lebens in Zukunft?
EPILOG
Mein persönlicher Rückblick und die damit verbundene Archivarbeit ist Ausgangspunkt und Grundlage meiner Suche nach einem Weg, die Selbstverständlichkeit unserer eingeübten Perspektiven aufzubrechen.

Denn es ist gerade diese Nicht-Selbstverständlichkeit, in unserer Geschichte, unserer Identität und all unserer Erfahrungen – all die Konjunktive, die sich nie realisiert haben – die unsere Gesellschaft zu jeder Zeit im Unbewussten beschäftigen und fortwährend blockieren. Und in denen ungeahnte Möglichkeitsräume des Denkens und Sprechens verborgen liegen könnten.

Ich bin 1977 in Ost-Berlin geboren. Ich bin ein Kind der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Das ist lange her, über 30 Jahre mittlerweile. Die Erinnerungen an meine Kindheit verblassen längst und kreisen vor allem um die familiären Momente, die sich uns eingeschrieben haben. Heute habe ich selbst Kinder, in genau demselben Alter wie ich damals, und es fällt mir schwer, ihnen einen Eindruck von diesem Land und meinem ersten Leben darin zu vermitteln. Zu sehr ist die Gegenwart mit sich selbst beschäftigt und meine Vergangenheit in die Geschichte übergegangen.

Vor kurzem jedoch hat mir meine Mutter meine alten Schulhefte aus genau dieser Zeit wieder gegeben. Ich habe angefangen darin zu stöbern, vielleicht um herauszufinden, ob es einen Unterschied gibt in den Antworten auf die Frage, womit sich ein Kind damals und ein Kind heute beschäftigt und wie anders sich heute die Welt vermittelt?

Und so fand ich in einem meiner Schulhefte einen Aufsatz, den ich mit 12 Jahren und ziemlich genau 4 Wochen vor dem Mauerfall geschrieben habe – einen „Bericht über die Entwicklung der Lerneinstellung in unserer Klasse“ – an den Freundschaftsrat, ein höheres Gremium der Jugendorganisation der Partei. Einen Bericht, der meine Erinnerung an mich selbst auf eine unheimliche Weise erschüttert hat.

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... Bericht als Text lesen ...
Ich habe also mit 12 Jahren einen ersten Bericht über die Menschen in meiner Umgebung geschrieben, von welcher Art ich in meinem Leben vielleicht noch sehr viele mehr geschrieben hätte, wenn die Geschichte dieses Land nicht urplötzlich von der Landkarte gestrichen hätte.

Ich lese meinen Aufsatz, immer und immer wieder, und immer wieder schrecke ich zurück. Ich erinnere mich, jedes mal ein bisschen mehr. Ich steckte schon so tief in den Strukturen dieses Systems DDR wie man als Kind nur stecken konnte. Ich bin bestens vorbereitet und motiviert worden, Aufgaben zu übernehmen. Bin Mitglied in allen Kinder- und Jugendorganisationen gewesen, wurde überall mit immer mehr Verantwortung betraut. Ich war Vorzeige-Schüler, Vorzeige-Sportler, Vorzeige-Pionier. Und so nah und selbstverständlich und attraktiv mir das andere Deutschland als Ost-Berliner auch gewesen ist – vor allem in seiner medialen Präsenz – so wenig hatte ich je gezweifelt an meiner Zugehörigkeit und Teilhabe in dem Land, in das ich hinein geboren wurde.

Der Fall der Mauer war ein Schock. Er kam nicht aus dem Nichts, auch nicht für mich. Aber es war einfach unvorstellbar. Unmöglich. Ich hatte doch noch so viel zu tun. Es gab ein Leben, das ich mir vorgestellt und ausgemalt habe. Eine Rolle und so viele Aufgaben, auf die ich mich doch schon vorbereitet hatte. Mein Leben in der DDR war vorgezeichnet – und nun unvollendet.

Dieses Leben hat es also nie gegeben. Ich habe es nicht gelebt. Ich bin stattdessen in dieses Neue Deutschland hineingewachsen. Bin Künstler geworden. Habe Kinder, die sowohl einen westdeutschen wie auch einen ostdeutschen Elternteil haben. Ich vermisse diese Zeit nicht, obwohl ich mich viel mit meiner Herkunft und seinen vielen Bedeutungen und Konsequenzen beschäftige. Und dennoch, es gibt Momente, in denen ich mich an dieses nicht gelebte Leben erinnere, einem Phantomschmerz gleich. Und ich frage mich, was das für ein Leben gewesen wäre? Wer dieser Mensch gewesen wäre, der ich in diesem längst vergangenen Land geworden wäre? Eine Frage, die ich nie werde beantworten können, die sich jedoch vielleicht zu stellen lohnt?!

Die DDR lebte in ihren gesellschaftlichen Strukturen noch lange weiter. Auf meinem Gymnasium waren wir ostdeutschen Kinder und unsere ehemaligen Lehrer immer noch unter uns. Doch hier wurde ich Teil eines Freundeskreis, der auch aus Kindern von ehemaligen Oppositionellen und KünstlerInnen bestand – Menschen, die Flugblätter gedruckt haben, die von der Stasi überwacht wurden, Menschen, die schon in der DDR ihren eigenen und unabhängigen Lebensweg gesucht haben.

Und so stellte ich mir schon kurz nach seinem Ende jene Frage, welchen Weg ich im Mikrokosmos DDR eingeschlagen hätte? Hätte ich dieselben Freunde gefunden? Wäre auch ich widerständig geworden und wäre einen anderen Weg gegangen? Oder hätte ich den Erwartungen nachgegeben in eine staatliche Verantwortung zu gehen, wie es sich vorgezeichnet hatte? Und wie hätte ich mich dort jeweils verhalten, mich entschieden und positioniert? Wären mir Zweifel gekommen? Hätte ich mich ihnen gestellt – und an welchem Punkt? Wieviele Berichte hätte ich schreiben müssen, um sie eines Tages tatsächlich selbst zu hinterfragen? Quo vadis, Genosse Franz Reimer?

All diese Fragen sind nicht neu. Was wäre wenn? Letztlich sind diese Fragen Grundlage jeden künstlerischen Schaffens. Aber dies ist mein Leben. Und meine Arbeit eine Spurensuche. In meiner Familie, in der Geschichte, in der Geschichtsschreibung – und vor allem in mir selbst. Die Geschichte hat mir die Möglichkeit gegeben, mein Leben von einer anderen Seite zu betrachten und zu reflektieren. Was also wären meine Rollen gewesen als künstlerisch und politisch handelnder Mensch in einer vielleicht noch existierenden DDR? Und was sind meine Rollen heute? Wie kann ich jemals wieder ganz selbstverständlich davon ausgehen, auf der richtigen Seite zu stehen und das Richtige zu tun?
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